Wie die Leipziger Grassimesse mit der Pandemie umging
Von „AHA-Regeln“ und „Balkonklatscher“ bis zu „Schnutenpulli“ und „Zoomparty“ – die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden hat diesmal reichlich Auswahl für das „Wort des Jahres“. Rund 1000 neue Begriffe haben die Sprachforscher 2020 zum Thema Corona zusammengetragen. Doch nicht nur die Sprache ist erfinderisch. Überall in der Welt entwickeln Kreative während der Pandemie neue Formate. In Sachen Messe war in diesem Oktober die Leipziger Grassimesse Vorreiter, eine der wichtigsten Plattformen für Design und Kunsthandwerk in Europa.
Keramiken von Betty Montarou vor Steinzeug aus dem 16. Jhd.
Von „AHA-Regeln“ und „Balkonklatscher“ bis zu „Schnutenpulli“ und „Zoomparty“ – die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden hat diesmal reichlich Auswahl für das „Wort des Jahres“. Rund 1000 neue Begriffe haben die Sprachforscher 2020 zum Thema Corona zusammengetragen. Doch nicht nur die Sprache ist erfinderisch. Überall in der Welt entwickeln Kreative während der Pandemie neue Formate. In Sachen Messe war in diesem Oktober die Leipziger Grassimesse Vorreiter, eine der wichtigsten Plattformen für Design und Kunsthandwerk in Europa.
Während alle anderen Märkte und Messen in Deutschland bereits im Frühjahr 2020 abgesagt wurden, dachte das Grassimuseum gar nicht daran, sich den 100. Messe-Geburtstag durch Corona vermiesen zu lassen. Museumsdirektor Olaf Thormann zog die Planung unbeirrt durch – mit einem bemerkenswerten Hygienekonzept, das auch nach der Pandemie weiter Schule machen dürfte: Zum ersten Mal öffnete das Haus die Räume der ständigen Ausstellung angewandter Kunst und präsentierte etwa ein Drittel der rund 100 Ausstellenden aus zwölf europäischen Ländern sowie aus Taiwan, Japan, Südkorea und den USA zwischen den Exponaten ihrer ständigen Sammlung.
Man fragt sich, warum es erst eine Krise brauchte, um so ein Konzept zu entwickeln und umzusetzen. Die Verteilung der Messestände auf den zwei Etagen des Museums für Angewandte Kunst war nicht nur in Punkto Abstandsvorschriften ein Gewinn, sondern auch für die Aussteller*innen, für die Objekte – und nicht zuletzt für die Besucher. Statt sich, wie in den vergangenen Jahren, in der Großen Galerie im Erdgeschoss zu drängen, konnte man ganz entspannt (mit Maske, versteht sich) durch die sehenswerte Sammlung von der Antike bis zum Historismus bummeln und dabei die Artefakte der jeweiligen Epochen mit der Angewandten Kunst von heute vergleichen. Das war überaus spannen und erhellend, denn ganz klar, mit der unmittelbaren Gegenüberstellung geht auch ein Kräftemessen einher: Bei jedem Messestand stellte sich erneut die Frage, „können die Künstler*innen, können die Objekte vor den Alten Meistern bestehen?“ Um es gleich vorweg zu nehmen: Ja, sie konnten, und zwar mit Bravour!
So korrespondieren die irdenfarbigen zylindrischen Vasen und Schalen der Keramikerin Betty Montarou aus Frankfurt am Main beispielsweise hervorragend mit den braunen Bartmannkrügen (mit bärtigen Gesichtern verzierte Krüge aus glasiertem Steinzeug) des 16. Jahrhunderts. Die konischen Gefäße aus weißem Porzellan von Susan Heise (Leipzig) standen in wohltuendem Kontrast zu den überreich verzierten Fayencen der italienischen Renaissance. Und die organisch reduzierte Formsprache der Holzschalen von Ulrike Scriba (Gengenbach) setzte einen klaren Kontrapunkt zu den opulenten Prunkschlössern der Renaissance und des Barock.
Holzschalen von Ulrike Scriba vor Prunkschlössern des 16. und 17. Jhd.,
Kabinettschrank von Martin Wilmes vor klassizistischer Bildtapete,
gusseisernes Kochgeschirr von Berthold Hoffmann vor Meissner Porzellan
Wie hervorragend sich skulpturale Möbel des 21. Jahrhunderts vor einer bemalten Tapetenwand des Klassizismus machen, zeigte die Präsentation des Möbelgestalters Martin Wilmes. Der Bremer, der für seine handwerklich perfekten, mit farbigen Fronten versehenen Kabinettschränke und Kommoden den diesjährigen Grassipreis der Carl und Anneliese Goedeler-Stiftung erhielt (3000 Euro), bespielte den halben „Römischen Saal“, benannt nach ihren hinreißenden Piranesi-Motiven „Vedute di Roma“, die Mitte der 1780er Jahre für Schloss Eythra bei Leipzig entstanden. Ihm gegenüber stand mit Metallgestalter Berthold Hoffmann aus Nürnberg ein Schwergewicht der Koch- und Tischkultur, dessen massiven, schwarzen Gusseisernen Geräte einen reizvollen Gegensatz zu den Vasen und Amphoren des Klassizismus bildeten – insbesondere zur prunkvollen, halbvergoldeten Kratervase des Meissner Meisters Carl Gotthelf Habe (1800-1894).
Am beeindruckendsten aber war die Präsentation des italienischen Drechslers und Autodidakten Lorenzo Franceschinis. Auf den Spuren des vom ihm verehrten, international vielfach ausgezeichneten Großmeisters Ernst Gamperl, fertigt der Italiener urtümliche Holzobjekte, mal bauchig rund wie ein Nest, mal lang und dünn wie eine Baumrinde. Objekte, die den Betrachter unweigerlich in den Bann ziehen. Ein Genuss, diese faszinierenden Gebilde unter der prachtvollen niederländischen Kanzel des späten 17. Jahrhundert zu sehen. So spannungsgeladen und gleichermaßen fast schon unheimlich stimmig wie dieses Zwiegespräch zwischen barockem Kirchenrelikt und moderner Archaik wünschte man sich mehr Präsentationen.
Gut möglich, dass es auch ein Vorbild für Pascal Johanssen wird, den Gast-Kurator der Messe Kunst und Handwerk im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe kommendes Jahr. Der Gründer des Direktorenhauses Berlin will die Hamburger Messe international stärker öffnen, dabei aber gleichzeitig einen regionalen Schwerpunkt setzen. Eigentlich sei das eine „eierlegende Wolfsmilchsau“, scherzte er selbstkritisch bei seiner Vorstellung per Zoom Anfang Dezember vor den Mitgliedern der Justus Brinckmann Gesellschaft. Doch so illusorisch, wie es sich zunächst anhört, ist es vielleicht gar nicht.
Holzobjekte von Lorenzo Franceschinis vor barocker Kanzel. Düstere Schmuckversionen aus den USA von Lee Masterson,
die Kettenglieder sind aus leeren Pillenformen gegossen. Objekte des keramischen 3D-Drucks von Babette Wiezorek, Berlin.
Rechts Glaskünstler Cornelius Reer, er erhielt den Grassipreis der Sparkasse Leipzig.
© Alle Fotos: Isabelle Hofmann
Die Grassimesse macht es ja vor. Mit Teilnehmern aus insgesamt 14 Nationen, darunter Dänemark, die Niederlande, Japan, Österreich, Schweiz und die USA, nicht zu vergessen das Gastland Litauen, das in der Pfeilerhalle des Museums seine interessante Kunst und Designszene konzentriert vorstellte, präsentiert sich die Messe so absolut international – und bietet dennoch mit 20 Aussteller*innen aus dem Raum Leipzig, Dresden, Halle einen unübersehbaren regionalen Schwerpunkt.
Mit Anne Andersson (Textil), Sybille Homann (Glas), Ulrike Isensee (Textil), Ulla und Martin Kaufmann (Schmuck), Andreas Möller (Textil) und Richard Schillings (Holz) waren übrigens auch sieben Mitglieder der AdK Hamburg in diesem Herbst in Leipzig vertreten.
Und wieder ging ein Preis an AdK-Künstler: Ulla und Martin Kaufmann, die 2020 ihr 50jähriges Jubiläum als freischaffende Schmuckkünstler feiern und seit 1997 kontinuierlich auf der Grassimesse vertreten sind, erhielten den diesjährigen Ehrenpreis für ihr Lebenswerk. Die AdK Hamburg gratuliert sehr herzlich!